Als ich zum ersten Mal den Namen Paula von Branca las war ich gerade dabei, für meine Biographie über Herzogin Sophie Charlotte in Bayern zu recherchieren – und ich dachte mir: „Du meine Güte, fast dasselbe, was ihr zugestoßen ist, passiert noch einmal.“
Dass die Nachwelt überhaupt etwas über das Schicksal von Paula von Branca weiß, liegt in erster Linie an einer jungen Dame, die in ihrer Jugend sehr fleißig Tagebuch geführt hat: Herzogin Amelie in Bayern. Amelie war die älteste Tochter von Herzog Carl Theodor in Bayern, einem renommierten Augenarzt. Paula von Branca war mehrere Jahre lang in seinem Haushalt angestellt, als Hofdame von Herzogin Amelie. Bei ihrer Ernennung im Jahre 1884 hatte offensichtlich niemand geringer als Kaiserin Elisabeth („Sisi“) von Österreich, eine Tante Amelies, die Hände im Spiel. Ihre jüngste Tochter Marie Valérie war eng mit Amelie befreundet und notierte am 3. Oktober 1884 in ihr Tagebuch, dass man bei einem Aufenthalt in Ungarn eine „Danksagungs-Wallfahrt“ zu Fuß nach Besnyö unternommen habe, da es der Kaiserin gelungen sei, ihren Bruder Carl Theodor zur Ernennung von Paula von Branca zur Hofdame zu bewegen.
Paula von Branca stammte aus einer bayerischen Adelsfamilie. Wir wissen, dass sie eine begabte, ehrgeizige und fleißige Schülerin gewesen ist, die eine besondere Begabung beim Erlernen von Fremdsprachen zeigte. Unter anderem lernte sie Altgriechisch und überraschte ihre Lehrer damit, dass sie Homer im Original lesen konnte. Schon in jungen Jahren trat sie als Erzieherin in die Dienste der herzoglichen Familie. Die ihr anvertraute Herzogin Amelie war nur um sechs Jahre jünger als ihre spätere Hofdame.
Länger als üblich blieb Herzogin Amelie unverheiratet, widmete sich vor allem der Musik und lebte – zusammen mit ihrer Hofdame – in München. Hier knüpfen die beiden jungen Damen freundschaftliche Bande zur dortigen Künstlerwelt, darunter auch zum Malerfürsten Franz von Lenbach. In diesem Umfeld lernte Paula von Branca den 20 Jahre älteren Hermann Levi kennen, seines Zeichens Hofkapellmeister und Dirigent bei der Uraufführung von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ in Bayreuth. Amelies Tagebuchaufzeichnungen zufolge verliebten Paula von Branca und Hermann Levi sich ineinander und wurden vielleicht sogar heimlich ein Paar. Jedenfalls erzählte Paula von Branca relativ offen und unverblümt im näheren Umfeld von ihrer großen Liebe zum jüdischen Kapellmeister.
Anfang September 1888, Paula ist damals 29 Jahre alt, erkrankt die Hofdame plötzlich. Es fängt damit an, dass Amelie sie nachts stöhnen und singen hört. Amelies Vater, Herzog Karl Theodor in Bayern, lässt Paula von Branca in ein separates Zimmer verlegen und von einer Krankenschwester betreuen. Man stellt fest, dass Paula von Branca an Anämie leidet. Obwohl es ihr verboten ist, besucht Amelie ihre Hofdame heimlich. Erschreckt muss sie feststellen, dass Paula sich an viele Dinge nicht mehr erinnern kann und sogar zeitweise ihre Dienstherrin gar nicht mehr erkennt. Einmal überrascht Paula Amelie mit der Frage, ob sie „ihr Baby nie gesehen habe“ und ob sie es denn besuchen werde? Amelie vertraut dies ihrem Tagebuch an. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Paula möglicherweise schwanger gewesen war und das Kind hatte abtreiben lassen. Amelie legt allerdings für ihre Hofdame die Hand ins Feuer, dass deren Beziehung zu Levi gewisse Grenzen nie überschritten habe.
Als die ominöse Krankheit anhält tritt eine Person auf den Plan, die den Ereignissen eine unheilvolle Wendung gibt: der Psychiater Hubert von Grashey. Grashey hatte in der Familie Wittelsbach bereits eine wichtige Rolle gespielt. So war er einer der Verfasser des Gutachtens, mit dessen Hilfe König Ludwig II. von Bayern entmündigt worden war. Außerdem hatte Grashey dabei mitgewirkt, Amelies Tante Sophie Charlotte, die sich von ihrem Ehemann hatte scheiden lassen wolen um einen bürgerlichen Arzt zu heiraten, in ein Sanatorium zwangseinweisen zu lassen. Grashey und Herzog Carl Theodor eröffnen der völlig entsetzten Amelie, dass ihre Hofdame so sehr erkrankt sei, dass es notwendig sei, sie in eine „Irrenanstalt“ zu verlegen. Man habe Sorge, dass Paula in einem Anfall Amelie etwas antun könne. Die Wahl fällt auf die Privatheilanstalt Kennenburg in der Nähe von Esslingen. Wieso man die Hofdame so weit von ihrer Heimat entfernt unterbringt, ist rätselhaft. Allerdings fällt auch hier eine gewisse Parallele zu Sophie Charlotte auf, die man ebenfalls weit entfernt von ihrer Familie, in Graz, interniert hatte. Als Paula von Branca am 23. September 1888 abgeholt wird, geht sie davon aus, dass man eine Spazierfahrt unternehmen würde. Es ist ein Abschied für immer, Amelie wird ihre Hofdame nie wieder sehen.
Die Krankenakte, die man in Kennenburg über Paula von Branca anlegt, ist erhalten geblieben. Sie ruht heute mit vielen anderen Krankenakten aus der Heilanstalt im Staatsarchiv Ludwigsburg – und harrt noch auf eine vollständige Auswertung.
Paula verbringt in Kennenburg mehrere Monate. Ihr Zustand scheint sich im Laufe der Zeit leicht zu bessern. Zu Weihnachten 1888 lässt Amelie ihr sogar einen Weihnachtsbaum schicken. Als Paula von Branca allerdings erfährt, dass sie infolge ihrer Erkrankung zwangspensioniert wurde und nie mehr als Hofdame wird arbeiten können, gerät dies zu einem herben Rückschlag.
Anfang Februar 1889 befindet sich Paula von Branca mittlerweile über vier Monate in der Heilanstalt Kennenburg. Es ist der 4. Februar 1889. Am Vormittag unterhält sich Paula von Branca noch mit dem diensthabenden Arzt über die Tragödie von Mayerling, die sich vor ein paar Tagen abgespielt hat. Am Abend werden die Ärzte plötzlich zu der Patientin gerufen. Unerwartet sind Krampfanfälle aufgetreten. Trotz aller Bemühungen der Ärzte, ihre Atmung wieder in Gang zu bringen, erstickt Paula von Branca am Nachmittag des 4. Februar 1889 im Alter von nur 29 Jahren. In der Krankenakte ist unter diesem Datum als Arzneigabe vermerkt: „1 Brausepulver“.
Wie im 19. Jahrhundert oft üblich, erhält Hermann Levi nach dem Tod von Paula von Branca die Briefe, die er an sie geschrieben hat, zurück. Da es Amelie untersagt wird, Levi alleine zu treffen, überwacht ihr Vater Carl Theodor die Rückgabe. Am Abend dieses Tages vermerkt Amelie in ihr Tagebuch: „das letzte Kapitel des traurigsten Romans, den ich miterlebt habe“.